Heimische Hochkultur entdeckt

27. April 2014 Stefanie Wolf

„Das habe ich ja noch nie gesehen“ sagte meine 17jährige Begleiterin aus der Stadt, als wir bei strahlendem Sonnenschein mit respektvollem Abstand vor einem riesigen Kuppelbau stehen. Nein – wir betrachten nicht die Hagia Sophia in Istanbul oder den Petersdom in Rom. Wir wandern gemütlich im Werdenfelser Land auf dem Bernadeinsteig Richtung Kreuzeckhaus und bestaunen eins der Wunder tierischer Baukunst.

Ein Ameisenbau ist ein hochkomplexer Staat mit sorgfältiger Arbeitsteilung

Um uns herum wuselt es auf dem Boden, und die Kuppel, die wir bestaunen, bewegt sich – sie „lebt“. Es ist ein Ameisenbau und was wir oberirdisch sehen zieht sich mit Gängen und Kammern bis zu 2 Meter tief in das Erdreich. So chaotisch uns das Gewusel auf unserem Weg und dem Kuppelbau auch erscheinen mag, es hat System: die fleißigen Arbeiter des Waldes haben klare Aufgabenteilung und eine wichtige Funktion im Ökosystem Wald und Wiese.

Artikelbild Ameisenbau

Im Ameisenbau herrscht strikte Arbeitsteilung

Wir nehmen uns Zeit und tauchen in Bodennähe ab, um das Treiben näher in Augenschein zu nehmen. Die sechsbeinigen Insekten mit ihrem gegliederten Körper und den langen Fühlern am Kopf sind ständig in Bewegung; da wird geschleppt, gedreht, gekaut, geschnitten, geleckt, geputzt. Ich lächele, denn ich denke dabei an Ameisenoberst Paul bei Biene Maja, der seine Truppe mit klaren Befehlen durch die Blumenwiese dirigiert: „Vorwärts, kehrt, halt!“, und an die kleine Ameise, die am Ende der Truppe mit ihrem viel zu großen Helm nichts sehend auf die Vorderameise aufläuft.

Energietechnisch ist der Ameisenbau eine architektonische Meisterleistung. Die große oberirdische Kuppel nimmt die Wärme der Sonne auf und leitet diese in das Innere. Gleichzeitig wirkt sie aufgrund der Gänge, die die Ameisen anlegen, wie ein Ventilator und be- und entlüftet das Ameisenzuhause optimal. Durch ihre Schichtbauweise mit Tannennadeln und ähnlichem Baumaterial schützt die Kuppel ebenfalls vor widrigem Wetter, indem sie Wasser ableitet und wie eine Daunenjacke isoliert. Die Bauweise und Funktionalität ist vergleichbar mit traditionellen Reet- oder Strohdächern.

Im Innern kümmert sich das Ameisenvolk liebevoll um den Nachwuchs; da wird geleckt, gewendet, transportiert und an der frischen Luft spazieren gegangen – bis aus den Eiern Madenkinder werden und diese sich verpuppen. Auch in diesem Stadium wird geputzt und gestreichelt – optimale Betreuung bis ins kleinste Detail.

Artikelbild Arbeitsameise

Eine einzelne Ameise ist meist eine Späher- oder Jägerameise

Hebammen bringen die Nachkommenschaft zur Welt – ja richtig gelesen. Die Hebammen schneiden mit ihren Kiefern das seidene Puppenkleid auf, so dass das fertige Insekt aus der Hülle gehoben, sauber geleckt und bereits erstmals gefüttert werden kann. Nun beginnt auch die Karriere der Ameise, denn hier ist Arbeitsteilung angesagt. Ist sie als Arbeitsameise geboren, bekommt sie zunächst Innendienst verpasst und wird Hebamme, Kindergärtnerin, Brutpflegerin, Straßenkehrerin, Dienerin der Königin, Torhüterin oder Mitglied im Bautrupp.

Im Ameisenkindergarten wird über die berufliche Zukunft der Ameisenkinder entschieden

Im Zuge der weiteren Entwicklung ist sie in der Landwirtschaft im Einsatz; entweder beim Sammeln von Samen, in der Haltung von Rinden- und Blattläusen oder als Späher und Jäger. Im Notfall kann jede Ameise alles, dennoch spezialisiert sich jedes Mitglied für ein Gebiet. Sie kann bis zu 6 Jahre alt werden und die Königin erreicht sogar ein Alter von bis zu 20 Jahren.

Der Bestand unserer Waldameisen ist heute leider stark gefährdet. Denn schon kleine Störungen, wie das Zerstören der Nestkuppel oder das Ausbringen von Pestiziden können die Brut vernichten und die Kolonie aussterben lassen. Lassen wir also bei unserer nächsten Besichtigung eines Ameisenbaus den Hügel lieber in Ruhe und betrachten ihn aus etwas Entfernung. Das verhindert auch, dass sich die neugierigen Ameisen in ihrem beständigen Bewegungsdrang auf unsere Wanderschuhe, Hosenbeine und noch weiter nach oben verirren.