Abschied vom Leben auf dem Berg – Mieminger Sonnenplateau
Das Mieminger Sonnenplateau muss einen besonderen Reiz haben, sonst wäre es sicherlich nicht zur Fersehkulisse ausgewählt worden. In fast 100 Episoden spielte hier die deutsch-österreichische Serie „Der Bergdoktor“. Die Region verwöhnt in der Tat mit Aussichten auf drei der großen 3000er Gebirgsketten Österreichs, die Zillertaler, Stubaier und Ötztaler Alpen, und Wanderer müssen nicht einmal so sehr hoch steigen, um den weiten Blick über das Inntal genießen zu können. Wenn dann der Magen vernehmlich knurrt, weil die Bewegung an der frischen Luft hungrig macht, lädt einer der zahlreichen Gastbetriebe ein, die mit Tiroler Köstlichkeiten ebenso sehr locken, wie die großen und kleinen Gipfel mit ihren Aussichten.
Wer von Arzkasten auf den Höllkopf steigt, kommt beim Auf- oder Abstieg zwangsläufig an der Marienbergalm vorbei. Eine kleine Pause auf ein Glas Buttermilch auf der Sonnenterrasse mit Blick auf die Ötztaler Gletscher lohnt hier immer. Die mineralstoffreiche Buttermilch, auf der große Butterflocken aufschwimmen, stammt von den Kühen, die in der Umgebung der Alm grasen und die die Almleute erst am frühen Morgen gemolken haben. Bei der Aussicht kann die Milch eigentlich nur gut schmecken.
Pächter der Alm sind Annemarie Schuchter und ihr Mann Herbert. Vierzig Jahre sind die beiden nun schon auf der Marienbergalm. Seit sie 19 sei, erzählt Annemarie, genannt Annie. „Vierzig Jahre Flitterwochen!“ ruft ihre Freundin Betty aus Biberwier neckend und alle stimmen in das Lachen von Annie und Betty ein. Doch von Flitterwochen kann hier nicht die Rede sein. Denn hier zu leben und zu arbeiten heißt morgens um 6 und nachmittags um 17 Uhr 250 Kühe zu melken, täglich etwa fünftausend Liter Milch zu Sahne, Butter, Topfen und Graukäse zu verarbeiten und auf 200 Schafe und drei Schweine aufzupassen. Und dann gibt es noch die ganzjährig bewirtete Alm mit gelegentlichen Übernachtungsgästen zu betreiben, wo schon am frühen Vormittag die ersten Gäste kommen, um sich bei einer Brotzeit, einem Schnitzel oder Kaiserschmarrn und frisch gebackenem Kuchen zu stärken. Aber das weiß Betty, die regelmäßig seit sie kleines Mädchen war, auf der Alm aushilft. So wie Bernadette, die diesen Sommer ein Praktikum auf der Alm gemacht hat und gerne mit den Gästen scherzt. „Da drüben bist‘ gesessen und hast Kaspressknödelsuppe gehabt.“ sagt sie mir auf den Kopf zu. Ich bin verblüfft, es stimmt. Allerdings liegt mein letzter Besuch schon über zwei Monate zurück.
Für Bernadettes und Bettys Hilfe ist Annie sehr dankbar. Ja, das sei manchmal schon hart gewesen in den vierzig Jahren auf der Alm, erzählt sie. Insbesondere im Winter, wenn sie von Biberwier mit dem Lift und dann weiter mit den Skier hätten aufsteigen müssen, um über das Marienbergjoch zur Alm abzufahren. Auf ihren Rücken die schweren Rucksäcke mit Lebensmitteln, weil sie die Alm wegen der Schneemassen nicht mit dem Auto anfahren konnten. Und dann die Lawinen, die sich im Winter immer wieder von den Marienbergspitzen lösten. Zum Glück sei aber immer alles gut gegangen und sie hätten schwere Krankheiten und Operationen immer in die Zwischensaison legen können. So wie das Aneurysma im Kopf, an dem Annie vor ein paar Jahren operiert werden musste. Trotzdem wird es langsam zu viel. Die Hüfte macht nicht mehr alles mit und seit der schweren Kopf-OP sei sie so temperaturempfindlich geworden. Da wird es nun Zeit für Annemarie und Herbert, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Am 6. Oktober ist für die beiden auf der Marienbergalm Schluss.
Ob es nicht schwer sei, nach vierzig Jahren die Alm zu verlassen? „Ach“, lacht Annie, „es wird anders werden. Und wir werden es genießen! Genug Arbeit gibt es für uns auch im Tal. Da bleiben uns noch die Schweine, der Hund und die Katzen. Uns wird nicht langweilig!“
Woran denkt sie, wenn sie auf die vierzig Jahre auf der Marienbergalm zurückblickt? „Alles hat sich verändert“, sagt Annie. Die Zeiten seien hektischer und die Leute ungeduldiger geworden. Alles müsse immer schnell-schnell gehen und keiner hätte mehr Zeit.
Das berichtet auch Linde Auer vom benachbarten Lehnberghaus. Vor allem die Mountainbiker seien wenig geduldig und hätten es immer besonders eilig. Fünfunddreißig Jahre sind sie und ihr Mann Hans nun schon Pächter auf dem Lehnberghaus und auch für sie läuft die Zeit rückwärts. Ab März kommendes Jahr wird das Haus renoviert und ein neuer Pächter übernimmt die schwere Arbeit. Das Auswahlverfahren in der Gemeinde läuft bereits. Sie sei froh, dass sie damit nichts zu tun habe, erzählt Linde. Die Arbeit hier oben verlange viel Leidenschaft, wenn man durchhalten möchte und nicht nach zwei Jahren schon wieder aufgeben will. Es wird eine schwierige Aufgabe für die Gemeinde, den richtigen Pächter zu finden.
Ohne die Unterstützung der Familie wäre es für die Auers in den 35 Jahren nicht gegangen. Wenn einmal wieder Not am Mann ist oder sich ein Bus mit zahlreichen Gästen angemeldet hat, rufen sie im Tal an und es kommen die Geschwister von Hans und Linde, um auszuhelfen. So wie auch damals, als sich eine Lawine von der Wankspitze bis in die Küche des Lehnberghauses verirrt hat und alles ausgeschippt werden musste. Und wenn die Lawinen im Winter einmal wieder die Rodelbahn verschüttet hatten, dann musste die Familie auch anpacken, denn die Gemeinde räumt nur den unteren öffentlichen Teil der Straße frei.
Aber auch den Auers wird es nun zu viel. Während die Übernachtungsgäste noch gemütlich frühstücken, steht Hans schon wieder in der Küche und bereitet seine preisverdächtigen Kaspressknödel vor. Er ist der Chef in der Küche und dafür zuständig, die Gäste kulinarisch zu verwöhnen. „Mittlerweile kocht er besser als ich!“, lacht Linde.
In ihren Händen liegt die Organisation des Hauses und sie bedient die Gäste, zu denen mittlerweile auch viele Stammgäste zählen, was sicherlich nicht nur an der wunderschönen Lage des Lehnberghauses liegt. Auf der einen Hand einen Kaiserschmarrn und ein Beerenomelette, auf der anderen das Tablett mit Getränken eilt Linde von Tisch zu Tisch und hat dabei immer einen Scherz bereit. Generell wird auf beiden Gastbetrieben, dem Lehnberghaus und der Marienbergalm, viel gelacht.
„Natürlich hat es auch viel Unerfreuliches in all den Jahren gegeben, aber daran denkt man nicht mehr.“, sagte Linde Auer. „Wir erinnern uns nur noch an das Schöne!“ und wieder lacht sie und an ihren blitzenden Augen merkt man, dass sie es ernst meint.
Was auf die beiden im Tal wartet, wissen sie noch nicht. Hans hat noch ein paar Jahre, bevor er in Rente gehen kann. Aber es wird schon was kommen. Die Auers haben noch ein wenig mehr Zeit als die Schuchters. Das Lehnberghaus wird auch über die Wintersaison noch geöffnet sein. Erst im März ist dann auch für die beiden hier oben endgültig Schluss.
Das Mieminger Sonnenplateau ist bekannt für seinen wetterbegünstigte Lage und seine unzähligen Sonnenstunden. Hoffen wir, dass auch im Leben der Familien Auer und Schuchter in ihrem neuen Lebensabschnitt weiterhin oft die Sonne scheinen wird und sie noch viel lachen können.