„Die Bergwanderung hat die Kundin motiviert, im Leben neue Wege zu gehen.“

7. März 2017 Peter Hergersberg
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Michaela Hergersberg, Bergwanderführerin und Gründerin von Steinbock Bergtouren, spricht darüber, wie sie Teilnehmern ihrer Touren hilft, beim Bergsteigen ihre Grenzen zu überwinden, und was manche von solchen Erfahrungen für ihren Alltag mitnehmen.

Wenn ich in den Bergen an eine Stelle komme, die recht ausgesetzt ist und an der ich zu viel Tiefblick habe, auf einem Grat zum Beispiel, gelange ich an meine Grenzen. Kann ich etwas tun, um diese Schwierigkeiten zu überwinden?

Natürlich kann man da etwas tun: Es kommt auf die richtige Anleitung durch jemanden an, der kompetent ist und dem man vertraut. Außerdem hilft es, sich zu fragen: Was kann mir denn passieren? Denn oft ist es die Angst vor dem, was passieren könnte, die uns limitiert. Wenn ich feststelle, das ist ja gar nicht so schlimm, dann bin ich auch eher bereit, mal etwas zu probieren. Bergwanderer, die sich in solchen Situationen schwertun, können sich weiterentwickeln, indem sie sich ihnen aussetzen. Wichtig ist dann, beim ersten Mal nicht das Gefühl zu haben, alleine gelassen zu werden.

Was kann ich aus solchen Erfahrungen in den Bergen für meinen Alltag, zum Beispiel im Beruf lernen?

Im Alltag ist es auch oft so, dass wir uns selbst Grenzen setzen oder andere uns Grenzen einreden. Darin richten wir uns auch gerne ein. Dann ist es nicht so einfach, aus dieser Komfortzone herauszugehen. Wenn wir in den Bergen lernen, dass es nicht so schwierig ist, dass es sogar ein sehr befriedigendes Gefühl sein kann, die eigenen Grenzen zu verschieben, probieren wir vielleicht auch im Alltag eher etwas Neues aus. Wichtig ist auch hier, jemanden zu haben, der einem mal eine helfende Hand reicht und einem gut zuspricht. Dann ist man in der Lage, über sich selbst hinauszuwachsen.

Erlebst Du es oft, dass Menschen in den Bergen an ihre Grenzen stoßen?

Das erlebe ich sogar relativ häufig. Es gibt immer wieder Situationen, wo es für einen Gast auf einmal nicht weiterzugehen scheint, weil es zu anstrengend ist oder weil es schwierig wird. An heißen Tagen etwa, wenn es noch ein Stück zu gehen ist. Dann muss ich mir Strategien überlegen, wie ich meinen Gast oder meinen Begleiter dazu bekommt, jetzt doch noch die nächsten 200 Höhenmeter durch ein steiles Tal aufzusteigen. Ich kann den Weg ja nicht kürzer machen. Dann ist es wichtig, dass ich auf mein Gegenüber eingehe und mich in dessen Situation hineinversetzen kann. Ich habe den Eindruck, dass das gerade Frauen besonders gut können. Wir bei Steinbock Bergtouren sind ja viele Frauen als Bergwanderführerinnen.

Leute zu motivieren, wenn ihnen die Anstrengung zusetzt, ist das eine, aber was machst Du, wenn jemand auf einmal Höhenangst bekommt?

Einmal hat sich jemand mit der Tour vielleicht ein bisschen übernommen, weil er Höhenangst hatte. Dann kam ein drahtseilversichertes Stück, und da musste er nun mal drüber. Dann habe ich gesagt: ‚Hier, halt Dich am Drahtseil fest. Ich geb‘ Dir jetzt eine Hand und wir steigen da auf. Du schaffst das schon.‘ Weil das psychisch sehr anstrengend ist, muss man danach eine kurze Pause machen und der Person Zeit gegeben, sich zu erholen. Das ist wichtig. Es ist aber auch wichtig zu sagen: ‚Hey, schau Dir an, was Du geschafft hast. Ich habe Dir nur ein bisschen die Hand hingehalten. Du bist da hochgegangen, ich habe Dich nicht hochgetragen.‘

Wie fühlen sich Menschen, wenn Du Ihnen über solche Situationen hinweghilfst?

Manche Leute sind mir dafür nach der Tour um den Hals gefallen sind und haben gesagt: ‚Ich habe nicht geglaubt, dass ich das schaffe. Es ist unglaublich, wozu Du mich motivieren konntest. Ich bin Dir so dankbar dafür.‘ Und nach einer Weile merken die Leute, dass sie mehr können, als sie dachten. Manchmal muss man sie vielleicht auch ein bisschen ablenken. (lacht)

Artikelbild Berge motivieren Grenzen zu verschieben

Viele unserer Grenzen existieren nur in unserem Kopf © M. Markewitsch

Was meinst Du mit ablenken?

Ich bin mal mit einer Frau gegangen, von der ich annahm, dass ein Teil des Abstiegs nicht einfach für sie würde. Weil sie gerne kocht, habe ich mich dann die ganze Zeit mit ihr über’s Kochen unterhalten. Bis dann irgendwann jemand aus der Gruppe hinten rief: ‚Merkt ihr, dass die Micha versucht, sie abzulenken, indem sie die ganze Zeit über’s Essen reden.‘ Da war es natürlich vorbei mit der Ablenkung. Aber die Dame musste dann so sehr lachen, dass damit schon aller Stress weg war. Und nachdem wir fast unten waren, war es dann auch egal. (lacht wieder). Es hat funktioniert. Zwei Tage später kamen wir an eine Stelle, mit der sie vorher sicherlich Schwierigkeiten gehabt hätte. Ich bin dann einfach mal daran vorbeigegangen und im Abstand von so zehn, 15 Metern stehen geblieben und habe so ein bisschen unbeteiligt in die Gegend geschaut. Als sie dann die Stelle passierte, ist sie ohne zu zögern rüber. Dann sagte jemand zu ihr: ‚Mensch, dass Du da jetzt einfach so rübergegangen bist, das finde ich ja Wahnsinn.‘ Da lachte sie und sagte: ‚Wenn das schwierig gewesen wäre, dann hätte Micha ja nach mir geschaut.‘ Und dann musste ich schon sehr schmunzeln, weil es nicht einfach war, aber sie hat es gekonnt. Ich habe an sie geglaubt und sie hat es gekonnt. Das ist etwas, was im Alltag oft fehlt, gerade auch im Job: dieses selbstverständliche Vertrauen, dass man etwas kann. In sich selbst, aber auch in andere.

Haben Dir Kunden auch schon mal berichtet, dass sie dieses Gefühl aus den Bergen mitgenommen haben in den Alltag?

Ich hatte zwei Fälle, von denen ich das konkret weiß, aber ich erfahre das ja nicht unbedingt. In dem einen Fall hat die Bergwanderung, die wir im Sommer gemacht haben, die Teilnehmerin dazu animiert, in ihrem Leben neue Wege zu gehen und sich beruflich neu zu orientieren. Und in dem anderen Fall hat sich eine Frau aufgrund der Bergtour gewandelt und hat eine Führungsposition übernommen, die sie sich vorher so offenbar nicht zugetraut hat.

Warum? Was hat die Bergtour da mit ihr gemacht?

Ich denke, sie hat während der Bergwanderung gemerkt, dass man vieles einfach mal ausprobieren und sich da vorsichtig herantasten kann. Und vielleicht hat sie realisiert, dass in ihr viel mehr steckt, als sie sich selber zugetraut hat.

Woher weißt Du, dass das auf die Bergtour zurückzuführen ist das?

Im ersten Fall habe ich eine Email bekommen, dass die Bergtour das Erlebnis des Jahres gewesen sei und die Teilnehmerin dazu motiviert habe, neue Wege zu gehen. Die Kundin ist seither schon einige Mal immer wieder mit mir gegangen. Es ist auch großartig zu sehen, wie die Teilnehmer Fortschritte machen. Und bei dem anderen Fall ist es mir durch jemand anderes zugetragen worden. Dass anscheinend die Bergwanderung der Auslöser dafür war, auch im Berufsleben Neues auszuprobieren.

Hast Du einen Gast auch mal nicht über eine schwierige Stelle gebracht?

Nein, tatsächlich nicht. Ich habe aber mal jemanden gehabt, (lacht) der hat ziemlich geflucht. Der hat ziemlich grimmig geschaut, erst zu der Stelle, über die er drüber musste, dann zu mir. Dann hat er tief Luft geholt und ist rüber. Ging offenbar. Und dann, nach einer halben Stunde lachte er und sagte: Du weißt doch, Micha, dass ich das nicht kann und dass ich dann ziemlich unter Stress stehe (Lacht wieder).

Hat er sich gefreut, dass er die Stelle geschafft hat? Oder hat er gesagt: So etwas brauche ich beim nächsten Mal nicht mehr.

Ich glaube nicht, dass das jetzt zu seiner Lieblingsdisziplin wird. Aber die Tour hat ihm gefallen. Auch seit vielen Jahren ein Kunde, der immer wieder kommt.

Hast Du auch an Dir selbst gemerkt, dass dieses Wachsen an den Herausforderungen in den Bergen sich in den Alltag überträgt?

Seit ich so oft die Möglichkeit habe, in die Berge zu gehen, habe ich dort sehr viel dazu gelernt. Was das Gehen angeht, und über den Umgang mit schwierigen Situationen. Für mich ist dabei wichtig, einen Partner auf Augenhöhe zu haben, der mich bestärkt. Der selbst auch mal meine Hilfe braucht. Dadurch sind wir beide beim Bergsteigen aneinander gewachsen. Bei mir haben diese Erfahrungen auch im Alltag sehr viel bewirkt. Ich bin gelassener geworden im Umgang mit Alltagssituationen. Außerdem habe aus dem Führen am Berg viel für das Führen in meinem eigenen Unternehmen gelernt. Da haben wir auch ein gemeinsames Ziel und brauchen Vertrauen ineinander. Ich muss den Kollegen und den Mitarbeitern auf Augenhöhe begegnen. Und manchmal reiche ich ihnen eine helfende Hand, um sie voranzubringen. Oder umgekehrt. Es entsteht innere Zufriedenheit dadurch, dass wir im Team gemeinsam Ziele erreichen und wir sehen, wie etwas wächst, weil alle anpacken und jeder sich auch wichtig fühlt. Das ist etwas, was am Berg eine wesentliche Rolle spielt, das ist keine one-man-show. Am Berg ist man als Team unterwegs.

Sollte man sein…

Sicher, man sollte das sein. Es ist nicht jeder ein Teamplayer. Da gibt es auch die, die ihre one-man-Show abziehen. Aber das ist nicht das, was ich in den Bergen möchte. Das ist für mich kein Wettkampf. Das ist ein gemeinsames, genussvolles Erleben – von Leben! Von dem Hier, von dem Jetzt. Das kann ein schöner rauschender Gebirgsbach sein oder eine tolle Blumenwiese oder ein gutes Essen auf einer Alm. Es macht mir viel mehr Freude, wenn ich es mit anderen zusammen erlebe und nicht ich alleine. Ich fühle mich nicht besser, wenn ich als erste am Gipfelkreuz bin.

Artikelbild Berge motivieren die Grenzen zu verschieben

Auch im Steinbock-Team gibt es immer eine helfende Hand für die anderen © Bergjournalisten.de